Biomax 24: Virtueller Blick in alte Knochen
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Dem Leben unserer Urahnen auf der Spur
Unser Studiengelände liegt im Nordosten Äthiopiens in der Region Dikika. Die weite, karge Landschaft von Dikika birgt Jahrmillionen altes Gebein. Seit fünf Jahren suchen wir die Böschungen entlang eines ausgetrockneten Flussbeckens ab und durchsieben den Boden nach Knochen, die das Wasser, das einst durch das Becken floss, bergab gespült hat. Mittagstemperaturen bis 50° Celsius lassen die Arbeit zur Qual werden; nirgends gibt es ein schattiges Plätzchen. Bisher besteht unsere Ausbeute aus einer Fülle fossiler Säugetiere, darunter Elefanten, Flusspferde und Antilopen. Menschliche Überreste sind nicht dabei.
Doch im Dezember 2000 wurden die Paläoanthropologen endlich fündig: In einer dicken Sandsteinlage stoßen sie auf die Teile eines Kinderskeletts. Das winzige Gesicht lugt aus einem staubigen Hang hervor. Es handelt sich um die fossilen Überreste eines Homininen: ein Australopithecus afarensis, wie die Forschung später feststellen wird. Damit gehört das Kind zur gleichen Art wie „Lucy“, jenes weltberühmte, rund 3,2 Millionen Jahre alte weibliche Skelett, das 1974 in der gleichen Region Afrikas ausgegraben wurde. Australopithecus afarensis nimmt eine Schlüsselposition im Stammbaum der Homininen ein – der heutige Mensch und die ausgestorbenen Vorfahren der Gattung Homo zählen zu dieser Gruppe – denn alle späteren Homininen stammen vermutlich von dieser Art ab.
Der neue Skelettfund ist der älteste und vollständigste, der jemals von einem kindlichen menschlichen Vorfahren gemacht worden ist, denn im Gegensatz zu „Lucy“ hat das Kind auch Finger, einen Fuß und einen vollständigen Rumpf. Und vor allem: es hat ein Gesicht (Titelbild). „Wir können die Milchzähne sehen und die bleibenden Zähne, die noch im Kiefer stecken. Wir haben fast alle Wirbel, Rippen und die Schulterblätter. Und wir haben Ellbogen, Hände, Beinknochen und fast einen kompletten Fuß, bei dem nur die Zehenspitzen fehlen“, beschreibt der aus Äthiopien stammende und zum damaligen Zeitpunkt in Leipzig arbeitende Projektleiter Zeresenay Alemseged den Fund. Sämtliche Knochen des oberen Skelettteils des Dikika-Kindes, von den Forschenden „Selam“ genannt, waren in einem kompakten Sandsteinblock eingeschlossen. Mit Hilfe eines Zahnarztbohrers wurde der harte Sandstein Korn für Korn aus den Rippenzwischenräumen und aus der Wirbelsäule entfernt.
Auf den Zahn gefühlt
Es dauerte mehr als vier Jahre, bis das gesamte Skelett geborgen werden konnte. Zahlreiche Forscherinnen und Forscher, u.a. vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, und mehr als 40 Feldforschungsassistierende waren an der Ausgrabung beteiligt. Beim Dikika-Kind liegen die Kronen der bleibenden Zähne noch im Knochen, sind aber teilweise schon voll ausgebildet. „Wir können heute mit biochemischen Methoden, Gensequenzanalysen und Computertechnik immer mehr aus fossilen Knochen herauslesen und so etwas über die Lebensweise, die Lebensbedingungen und den Lebensverlauf der Frühmenschen erfahren“, erklärt Jean-Jacques Hublin, Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut, die weitreichenden methodischen Umwälzungen in seinem Forschungsgebiet. So erlaubt die computertomografische Untersuchung von Zähnen zuvor unzugängliche Entwicklungsmerkmale virtuell freizulegen, ohne das Fundstück dabei zu zerstören. Zähne gehören zu den häufigsten und am besten erhaltenen fossilen Belegen und können über das Alter und das Geschlecht des Fossilienfundes Auskunft geben.
Die Größe des ersten Backenzahnes zeigt: bei dem Dikika-Kind handelte es sich wohl um ein kleines Mädchen. Die Zahnentwicklung beginnt bei Menschen und Menschenaffen vor der Geburt und dauert während des Heranwachsens an. Entwicklungsgeschwindigkeit und -zeit werden dabei fortwährend als Wachstumslinien – ähnlich wie die Jahresringe von Bäumen – im Zahnschmelz und im Zahnbein gespeichert und bleiben darin unverändert über Millionen von Jahren erhalten. Mit hochauflösender Synchrotron-Mikrotomographie am Europäischen Synchrotron (ESRF) im französischen Grenoble wurde so das Sterbealter des Dikika-Kindes ermittelt: Es wurde nur 861 Tage alt, also nicht einmal zweieinhalb Jahre. Vermutlich hat eine Flutwelle es vor etwa 3,3 Millionen Jahren mitgerissen und dann sehr schnell unter Kies und Sand begraben, so dass es vor Aasfressern und der Witterung geschützt war.
Auf dem Weg zu einer langen Kindheit
Aufgrund der versteinerten Schädelknochen (Abb. A) konnte das Team am Max-Planck-Institut dem Dikika-Kind auch Geheimnisse über die Evolution der Gehirnentwicklung entlocken. Gehirne versteinern zwar nicht, aber das Gehirn hinterlässt einen Abdruck im knöchernen Schädel, während es sich im Laufe der Kindesentwicklung ausdehnt. Basierend auf Abgüssen des inneren Schädels konnten die Leipziger das Gehirnvolumen schätzen und aus den sichtbaren Gehirnwindungen wichtige Aspekte der Gehirnorganisation ableiten. „Nach sieben Jahren Arbeit hatten wir endlich alle Puzzleteile, um die Evolution des Gehirnwachstums zu untersuchen“, erzählt der Max-Planck-Forscher Philipp Gunz: „Das Sterbealter des Dikika-Kindes und sein Gehirnvolumen, die Gehirnvolumina der am besten erhaltenen erwachsenen Australopithecus afarensis–Fossilien sowie Vergleichsdaten von mehr als 1600 modernen Menschen und Schimpansen.” Die Ergebnisse werfen ein neues Licht auf zwei viel diskutierte Fragen: Gibt es Hinweise auf eine menschenähnliche Organisation des Gehirns bei Australopithecus afarensis? Und: War das Muster des Gehirnwachstums bei Australopithecus afarensis dem von Schimpansen oder dem von Menschen ähnlicher?
Herunter von den Bäumen
Entgegen früheren Annahmen weisen die Gehirnabdrücke von Australopithecus afarensis auf eine affenähnliche Gehirnorganisation hin und zeigen keine menschenähnlichen Merkmale (Abb. B). „Weil die Gehirne von Australopithecus afarensis Erwachsenen etwa 20 Prozent größer waren als die von Schimpansen, deutet das kleine Gehirnvolumen des Dikika-Kindes auf ein längeres Gehirnwachstum als bei Schimpansen hin“, so Gunz. Bei Primaten hängen das Wachstumsmuster und die Fürsorge-Strategie für die Jungtiere miteinander zusammen. Die verlängerte Wachstumsphase des Gehirns bei Australopithecus afarensis könnte also möglicherweise auf eine lange Abhängigkeit der Kinder von den Eltern hindeuten. Alternativ könnte sie auch eine Anpassung an Umweltbedingungen sein: Bei Nahrungsmangel würde der Energiebedarf abhängiger Nachkommen so über viele Jahre verteilt. In beiden Fällen bildete das lange Gehirnwachstum bei Australopithecus afarensis eine Grundlage für die spätere Evolution des Gehirns und des Sozialverhaltens bei Homininen, und für die Evolution einer langen Kindheit.
Der Oberschenkelknochen, das Schienbein und der Fuß liefern den Beweis, dass Australopithecus afarensis aufrecht gegangen ist – jedoch auf eine andere Art und Weise als wir (erst Homo erectus entwickelt vor 1,7 Millionen Jahren eine Art des aufrechten Gangs, die im Wesentlichen mit der Fortbewegungsweise der modernen Menschen übereinstimmt). Die beiden vollständig erhaltenen Schulterblätter des Dikika-Kindes ähneln denen eines jungen Gorillas und erleichterten wahrscheinlich das Klettern. „Wir gehen davon aus, dass sich diese frühen Vorfahren noch gut in Bäumen fortbewegen konnten“, erklärt Gunz. Was auch nicht weiter verwundert: Verschiedene Strukturen und Organe evolvieren in der Regel unterschiedlich schnell, sodass ein Mosaik von ursprünglichen und abgeleiteten Merkmalen entsteht. Jene Selektionskräfte, die den aufrechten Gang hervorbrachten, haben zuerst auf die Hinterbeine und das Becken gewirkt; die Arme und die Schulterpartie waren zunächst weniger bedeutsam, „deshalb passt die untere Körperhälfte des Australopithecus gut zum aufrechten Gang, während Oberkörper und Arme altmodischer wirken“, sagt Jean-Jacques Hublin.
Ein besonders seltener und aufregender Teil des Dikika-Fundes ist das Zungenbein. Dieser zarte Knochen hält Zunge und Kehlkopf in Position. Er spielt vermutlich eine wichtige Rolle bei der Produktion menschlicher Sprache und könnte den Forschenden helfen, die Konstruktion und Evolution des menschlichen Sprechapparates besser zu verstehen. Die Beschaffenheit dieses Knochens bei ausgestorbenen Homininen-Arten ist weitgehend unbekannt. Das einzige bislang gefundene Neandertaler-Zungenbein sieht menschlich und nicht Schimpansen-ähnlich aus. Der Zungenbeinknochen des Dikika-Mädchens ähnelt dagegen dem afrikanischer Menschenaffen. Damit bestätigt dieser Fund Berechnungen der britischen Anatomin Margaret Clegg und ihrer Kollegin, der Anthropologin Leslie Aiello, die 2002 mittels statistischer Analyse von Affen- und Menschenschädeln versucht haben, Indikatoren für die Form des Zungenbeins zu finden. Ihren Voraussagen zufolge haben die Australopithecinen eine ähnliche Zungenbeinform wie Schimpansen und Gorillas gehabt. Doch schon bei den anatomischen Übergangsformen zwischen Australopithecus und der Gattung Homo soll sich das Zungenbein in die menschliche Richtung verändert haben – ein Hinweis dafür, dass der frühe Urmensch seinen Stimmapparat anders verwendete als seine Ahnen.
Homo sapiens – Fortschritt oder Anpassung?
Australopithecus afarensis gehört zu den Wurzeln des Stammbaumes von Homo sapiens – doch zwischen diesen frühen Homininen vor mehr als drei Millionen Jahren und den ersten bekannten Vertretern unserer eigenen Art vor ungefähr 300.000 Jahren liegt ein langer Zeitraum. Die Fossilüberlieferung beweist, dass in dieser Zeitspanne viele verschiedene Menschentypen gleichzeitig nebeneinander existierten (Abb. C). Der größte Teil der bekannten fossilen Frühmenschen gehörte nicht einem einzelnen, sich entwickelnden Stamm an. Es gab eine ganze Reihe getrennter Evolutionszweige, die meisten von ihnen waren Seitenzweige und Sackgassen, von denen keine Spur in die moderne Welt führt. So gleicht der menschliche Stammbaum einem sich verzweigenden Busch mit vielen abgestorbenen Zweigen. Dass die Entwicklung zum Homo sapiens nicht linear verlief, muss nicht erstaunen. Denn der zentrale Punkt bei der Evolution ist nicht der Fortschritt zu Höherem, sondern das Hervorbringen verschiedenartiger Formen, Varietäten wie Darwin sie nannte. „Die heutige Situation, dass wir seit dem Aussterben der Neandertaler vor etwa 30.000 Jahren die einzige Homininenart auf diesem Planeten sind, ist die Ausnahme“, sagt Philipp Gunz.
Bei vielen Tiergruppen ist die stammesgeschichtliche Verzweigung in den unterschiedlichen Gattungen und Arten heute noch sichtbar, zum Beispiel bei den paarhufigen Wiederkäuern mit Hörnern, den Bovidae. Afrika ist ihr Hauptverbreitungsgebiet, aber sie sind auch auf allen anderen Kontinenten (mit Ausnahme von Australien) anzutreffen. Zu dieser Familie zählen die winzigen Dikdiks ebenso wie der massige Kaffernbüffel. Wollte man ihre Entwicklung als fortschreitende Stufenleiter betrachten, so käme man in erhebliche Schwierigkeiten. Denn die Merkmale der verschiedenen Bovidae sind keineswegs Kennzeichen einer evolutionären Weiterentwicklung, sondern resultieren aus der Anpassung an die jeweiligen Anforderungen der unterschiedlichen Lebensräume und des damit verbundenen Nahrungsangebots. Die meisten Tiergruppen sind insbesondere in den frühen Abschnitten ihrer Evolutionsgeschichte sehr unterschiedlich ausgestaltet, und es gibt keinen Grund, warum dies ausgerechnet bei der Humanevolution anders gewesen sein sollte.
So mancher sieht im aufrechten Gang viel lieber einen Fortschritt als eine Alternative zur vierfüßigen Fortbewegungsweise. Aber wir sollten uns fragen, ob nicht beispielsweise die unterschiedliche Gehirngröße bei den Homininen schlichtweg eine Anpassung an verschiedene Lebensräume sein könnte. Die Fossilienüberlieferung zeigt, was es mit der angeblichen Weiterentwicklung auf sich hat: Tatsächlich lebten, z.B.im Osten und Süden Afrikas zeitgleich Vertreter der Homininengattung Paranthropus mit ihren relativ kleinen Gehirnen zur gleichen Zeit wie Vertreter der menschlichen Gattung Homo mit ihren größeren Gehirnen. Die verschiedenen Homininen stellen nichts anderes dar als alternative Antworten auf die vielfältigen Umweltbedingungen (adaptive Radiation).
Und wenn sie überlebt hätten?
Vergegenwärtigt man sich dieses Muster, so drängt sich die Frage auf, welche Rolle dann noch die menschliche Einzigartigkeit spielt. Bei der Betrachtung von Menschen und Menschenaffen klafft eine vermeintlich große Lücke zwischen uns und unseren nächsten Verwandten. Doch dieser evolutionäre Raum war in der Vergangenheit kein Vakuum, sondern enthielt zahlreiche weitere Homininenformen. Hätten die robusten Paranthropus-Arten in Afrika überlebt, hätten sich die Neandertaler in Sibirien oder der Homo erectus auf Java erhalten, dann würden uns die Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen längst nicht so beeindrucken.
Abbildungshinweise:
Titelbild: Links © Zeray Alemseged; rechts © Philipp Gunz / CC BY-NC-ND 4.0
Abb. A und B: © P. Gunz, MPI für evolutionäre Anthropologie / CC BY-NC-ND 4.0
Abb. C: © W. Schnaubelt & N. Kieser – Atelier WILD LIFE ART für das Hessische Landesmuseum Darmstadt
Der Text wird unter CC BY-NC-SA 4.0 veröffentlicht.
BIOMAX Ausgabe 24, Neuauflage Frühjahr 2021; Autorin: Christina Beck; Redaktion: Tanja Fendt